Das Projekt nexus ist seit dem 30. April 2020 abgeschlossen. Alle Informationen und Texte entsprechen dem Stand zum Projektende und werden nicht weiter aktualisiert. Mit dem Themenbereich Anrechnung und Anerkennung befasst sich das aktuelle HRK-Projekt MODUS und für Studierende die Infoseite AN!.
Soll die digitale Transformation in den Hochschulen gelingen, müssen wir reden - darüber, wie gutes Lernen aussieht und wie wir uns besser vernetzen.
1. Wir müssen mehr über gutes Lernen reden.
Sehen wir die Digitalisierung primär als technisches oder technologisches Phänomen, springen wir zu kurz: Die Erfahrungen anderer Branchen zeigen, dass sie die Herausforderungen nur dann gut bewältigen, wenn sie sich grundlegenden Fragen nach ihrem "Geschäftsmodell" stellen. Sowohl die Musik- als auch die Medienbranche sind durch die digitalen Möglichkeiten einmal vom Kopf auf die Füße und wieder retour gestellt worden. Gut bewältigt haben diesen Prozess jene Organisationen, die sich überlegt haben, was das Besondere, Spezifische an der eigenen Mission ist und wie die medialen Möglichkeiten dabei helfen können, diese umzusetzen. Diesen Prozess umgekehrt anzugehen, also das Vorhandene in neue mediale Schläuche zu gießen, funktioniert in aller Regel nicht.
Auf den Lehrebereich der Hochschulen übertragen, heißt das: Bevor wir uns in neue technische Möglichkeiten stürzen, müssen wir die Frage danach stellen, was gutes Lernen ausmacht. Darin ist der Hochschulbereich nicht sehr geübt, weil es zwar HochSCHULEN sind. Jedoch ziehen die meisten Beteiligten ihr Selbstverständnis aus der Forschungsfunktion. Die professionelle Auseinandersetzung mit dem Lernen kommt aus vielen systemischen, strukturellen und karrierebedingten Gründen, die hier nicht zu vertiefen sind, zu kurz. Dennoch ist es wichtig, diesen Umstand zu bedenken. Am Ende der disruptiven Entwicklungen werden jene die Nase vorne haben, deren Lehre qualitativ hochwertig ist, die also tatsächlich gutes Lernen unterstützen.
Was jedoch brauchen Menschen, um gut zu lernen? Lernen muss so weit wie möglich personalisiert und individualisiert werden sowie emotional berühren. Es muss vom Lernenden selbst ausgehen. Deshalb muss gute Lehre an die Vorerfahrungen der Lernenden anknüpfen. Der schon im Rahmen des Bologna-Prozesses betonte (aber oft übersehene) Leitspruch "from teaching to learning" ist in den Hochschulen nur in Ausnahmefällen vollzogen worden. Nun allerdings muss er ernst genommen werden, wenn wir nicht alten Wein in neue digitale Schläuche gießen wollen. Die Hochschulen müssen also Lernprozesse höchst unterschiedlicher Individuen berücksichtigen, und zwar - unter der Prämisse des Lebenslangen Lernens - in höchst unterschiedlichen Lebenssituationen und -phasen. Dabei muss man Lernen, das zur Kompetenzentwicklung führt, als einen intrapersonellen Vorgang verstehen. Der Nürnberger Trichter war immer eine Illusion. Dennoch kann man diesen Lern-Vorgang an sich besser oder schlechter unterstützen, eine bessere oder schlechtere Umgebung dafür gestalten. Diese Schubumkehr von der Lehre zum Lernen war aus pädagogischer Sicht immer ein Erfolgsrezept. Angesichts der neuen medialen Möglichkeiten kann sie nun auch institutionell sehr gut befördert werden. Die digitalen Möglichkeiten unterstützen uns dabei, das Lernen zu den Lernenden zu bringen. Aber es müsste sich jemand zuständig fühlen, die Lernmöglichkeiten zu vernetzen und entsprechende Lernarchitekturen und -arrangements zu schaffen. Das ist eine anspruchsvolle institutionelle und individuelle Scholarship-Aufgabe, die bisher nur wenige Lehrende im Hochschulbereich praktizieren. Sollen es mehr werden, müssen Lehrende sowohl angeregt werden, entsprechende Haltungen und Kompetenzen aufzubauen, als auch adäquat institutionell unterstützt werden. Für gutes digitales Lernen braucht es Service-Einrichtungen und einen guten Support durch einen funktionierenden Dienstleistungsbereich.
2. Wir müssen lernen, uns gut zu vernetzen.
Der Hochschulbereich hat nun die Wahl: intelligente Kooperationsformen entwickeln und die Herausforderungen schultern oder abgehängt werden von den sich auch im Bildungsbereich rasant vollziehenden Veränderungen. Zu groß und gleichzeitig sind die Herausforderungen.
Für den Forschungsbetrieb ergeben sich völlig neue Möglichkeiten, etwa, wenn es um den Umgang mit großen Datenmengen geht oder um die Beziehung zwischen Forschenden und Beforschten. Die Idee von Open Science ist sympathisch, sie setzt aber auch transparentes Forschungsdaten-Management sowie eine Dateninfrastruktur voraus, über die der Wissenschaftsbereich selten verfügt.
Ebenfalls massiv berührt wird der Verwaltungsbereich einer Hochschule. Auch hier müssen die Prozesse von Grund auf neu gedacht werden. Es reicht nicht, die E-Akte einzuführen, wenn Hochschulen und ihre Verwaltungsprozesse professionell ernst genommen werden sollen in einer zunehmend digitalen Umgebung und von zunehmend digital affinen Nutzerinnen und Nutzern.
Auch im Lehrebereich steigen die Anforderungen an die Professionalität: Studierende können heute viel mehr und viel besser weltweit vergleichen. Lehre wird transparenter und stärker dem Wettbewerb ausgesetzt. Die notwendige Professionalität werden die Organisationen nur dann entwickeln können, wenn sie sich zusammentun. Beispielsweise ermöglicht die Plattform Digitale Hochschule NRW als Kooperationsprojekt aller Hochschulen in Nordrhein-Westfalen erste Erfahrungen: Wie ist Partizipation möglich, wenn gleichzeitig die Prozesse schlank bleiben sollen? Wie können Gremien und Governance so aufgestellt werden, dass sie sich nicht lähmen? Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Ministerien und Hochschulen auf Augenhöhe? Wie schafft man Communities insbesondere im Lehrebereich, die vom Engagement der Lehrenden getragen werden, weil sonst der Funke zur gemeinsamen Content-Entwicklung nicht überspringt? Wie schaffen Kanzlerinnen und Kanzler gemeinsame Strukturen, so dass sie gut zusammenarbeiten, eine gemeinsame Verhandlungsmacht gegenüber Softwarefirmen ausspielen und Best Practice teilen können? Alle diese Fragen müssen sich alle Plattform-Betreiber stellen. All diese Prozesse sind mühsam angesichts von Hochschulstrukturen, deren Vertreterinnen und Vertreter froh waren, nach vielen Jahre des Daseins als nachgelagerte Dienststellen eines Ministeriums den Weg hin zu zunehmend autonomen Einrichtungen geschafft zu haben. Nun müssen sie sortieren, wo Kooperationen die Entwicklungen eines eigenständigen Profils nicht behindern, sondern vielleicht erst ermöglichen, weil sie Energie und Kräfte für die wirklich wichtigen Fragen freisetzen. Ein institutionelles Profil erhält man nicht dadurch, dass man ein anderes Campus-Managementsystem als andere hat. Gleichzeitig ist diese Differenzierung ein notwendiger Entwicklungsschritt. Vermutlich kann man bestimmte Phasen nicht einfach überspringen.
Ich glaube, weil die Herausforderungen groß sind, ist die Zeit reif für neue Formen des Verbunds bzw. gemeinsame Plattformen der Kooperation. Dafür müssen aber neue Steuerungsformen entwickelt werden, die "Coopetition" ermöglichen, also Kooperation und Wettbewerb zugleich. Sie dürfen nicht in die alten Muster des dirigistischen Hineinregierens verfallen, sondern sollten eine Steuerung über Vereinbarungen und gemeinsame Zielvorstellungen erlauben. Der Kooperationswille wird zudem befeuert, wenn es (zusätzliches) Geld für den Verbund gibt, an das die Mitwirkenden aber nur herankommen, wenn sie sich den Zielvorstellungen stellen. Ein unkompliziertes finanzielles und organisationales Anreiz- und Sanktionssystem fördert meistens die Kooperationsbereitschaft. Nicht zuletzt gilt es, positive Managementerfahrungen des Autonomieprozesses auf die neuen Formen der Kooperationen zu übertragen. Diese bilden dann eine gute Umgebung für die enorm aufwendigen Prozesse der Content-Entwicklung, die Entwicklung entsprechender Weiterbildungsprogramme, neuer Rollenprofile, adäquater Supportservices und passenden Marketings. Aber insgesamt müsste das keine Organisation in mühsamen Prozessen alleine organisieren. Und das Hochschulsystem als Ganzes hätte einen enormen Schritt in Richtung internationaler Wettbewerbsfähigkeit gemacht.
Prof. Dr. Ada Pellert
ist seit März 2016 Rektorin der FernUniversität in Hagen. Zuvor war die Wirtschaftswissenschaftlerin im Hochschulmanagement verschiedener Universitäten im deutschsprachigen Raum sowie als Professorin für Organisationsentwicklung und Bildungsmanagement tätig. Seit September 2016 ist Ada Pellert Vorsitzende der Kooperationsplattform Digitale Hochschule NRW (DH-NRW), seit August 2018 Mitglied des Digitalrates der Bundesregierung.
Seit den 1990er Jahren ist sie in der international vergleichenden Bildungs- und Hochschulforschung, der Weiterbildung von Hochschullehrenden sowie der Beratung von Hochschuleinrichtungen national und international tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören insbesondere Bildungs- und Hochschulmanagement, Personal- und Organisationsentwicklung. Die Wirtschaftswissenschaftlerin beschäftigt sich zudem mit internationaler Hochschul- und Weiterbildungsforschung, dem Gender- und Diversity-Management sowie mit dem Lebenslangen Lernen. (Foto: Volker Wiciok)