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Interprofessionelles Lernen und Lehren für eine kooperative Praxis – Goldstandard in der Qualifizierung der Gesundheitsprofessionen?

22. November 2019 – Prof. Dr. Michael Ewers und Doreen Herinek (M.Sc.)

In vielen Ländern werden Gesundheitsprofessionen an Hochschulen und Universitäten in organisatorisch mehr oder weniger eigenständigen „Professional Schools“ ausgebildet – beispielsweise in Schools of Medicine, Schools of Dentistry, Schools of Nursing & Midwifery oder Schools of Allied Health Professionals. Zuweilen sind diese Untereinheiten zu Departments oder Fakultäten für Gesundheits­wissenschaften zusammengefasst und oftmals in Verbindung mit krankenversorgenden Einrichtungen auf einem gemeinsamen Campus angesiedelt. Diese Struktur wahrt zwar die professionelle Eigenständigkeit und die Selbstorganisation der miteinander verwandten, in sich aber durchaus heterogenen Wissenschaftsdisziplinen. Beklagt wird jedoch, dass die Ausbildung der verschiedenen Gesundheitsprofessionen in siloartig voneinander abgetrennten Organisationseinheiten wenig Gelegenheit zum gemeinsamen Lernen, Lehren und Arbeiten bietet. ÄrztInnen, PflegerInnen oder TherapeutInnen könnten so kaum angemessen auf ihre späteren beruflichen Anforderungen vorbereitet werden. Denn in der Praxis werden immer öfter Teamplayer gefordert, die ihren eigenen Aufgaben- und Verantwortungsbereich ebenso gut kennen wie den der übrigen Gesundheitsprofessionen. Dies soll ihnen ermöglichen, eigenständige und zugleich ineinandergreifende Beiträge zu einer kooperativen, partizipativen und bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung zu leisten. Doch obwohl die Arbeit in interprofessionellen Teams zur zentralen Forderung gesundheits- und versorgungspolitischer Initiativen erhoben wurde, blieben die einzelnen Gesundheitsprofessionen während ihrer primären Qualifizierungsphase weitgehend unter sich. Nur selten würden sie aufeinander treffen und noch seltener hätten sie Gelegenheit, „miteinander, voneinander und übereinander“ (CAIPE 2002) zu lernen, um so zunehmend komplexere Probleme in der Versorgungspraxis gemeinschaftlich beantworten zu können (Ewers et al. 2019).

Internationale Bewegung für mehr Interprofessionalität

Dem soll nunmehr vermehrt mit einer internationalen sozialen Bewegung für mehr Interprofessionalität (Barr 2015) begegnet werden. Die traditionell siloartige Qualifizierung der verschiedenen Gesundheitsprofessionen soll durchlässiger gestaltet und es sollen interprofessionelle Begegnungsinseln in den Ausbildungsprogrammen geschaffen werden. Dazu gehören zum Beispiel gemeinsame Einführungstage für neu immatrikulierte Studierende. So wurden an der University of Toronto zu Beginn des Wintersemesters 2019/2020 mehr als eintausend Studierende aus den verschiedenen gesundheitsbezogenen Ausbildungsprogrammen gemeinsam in ihr Studium eingeführt, an der University of Michigan musste für eine ähnlich große Zahl an Studierenden ein Stadion angemietet werden. Im hochschulischen Alltag werden für das interprofessionelle Lernen und Lehren Formate wie Vorlesungen, Seminarreihen oder praktische Lerneinheiten – etwa in Skills-Labs oder klinischen Settings – genutzt. Zwischenzeitlich werden solche Lehr-Lernangebote in vielen Ländern extracurricular, auf freiwilliger Basis und ergänzend zur regulären Lehre angeboten. Auf diese Weise lassen sie sich niederschwellig und kostengünstig implementieren, von den Studierenden aber werden sie oft als weniger wichtig angesehen als Pflichtveranstaltungen – entsprechend unregelmäßig werden sie besucht (Ewers/Reichel 2017). Bestrebungen zur Integration des Themas in bestehende Curricula sind nachhaltiger, zugleich aber deutlich aufwändiger. Sie verlangen oftmals einen sprichwörtlichen langen Atem, eine Anpassung der Regularien und eine flankierende politische Unterstützung.

Implementierung in Curricula

Sind diese Voraussetzungen gegeben, werden interprofessionelle Lehrangebote curricular entweder in die Präsenzlehre, in simulationsbasierte Angebote (Skills-Trainings) oder im Rahmen klinischer Studienphasen unmittelbar in die Versorgungspraxis integriert. Auf diese Weise können alle Studierenden erreicht und der Aufbau interprofessioneller Praxisgemeinschaften bereits während der Primärqualifizierung gefördert werden. Zwar fehlt es noch an überzeugenden Beweisen dafür, dass möglichst früh im Studium angesiedelte interprofessionelle Lernerfahrungen dazu befähigen, im späteren Berufsleben kooperativ zu arbeiten und bessere patienten- oder nutzerseitige Ergebnisse erzielen zu können (Reeves et al. 2013). Dennoch enthalten Approbations-, Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen, Lehrpläne, Curricula etc. aller staatlich regulierten Gesundheitsprofessionen heute in zahlreichen anglo-amerikanischen und skandinavischen Ländern verbindliche Vorgaben dazu, wie interprofessionelle Kompetenzen in der Primärqualifizierung angebahnt, weiterentwickelt und auch überprüft werden sollen. Dazu wurden die Studien- und Ausbildungsprogramme schrittweise modernisiert und zum Teil auch harmonisiert – etwa um die inhaltlichen und logistischen Voraussetzungen für ein gemeinsames Lernen und Lehren zu schaffen. Das hat sich auch auf die Qualitätsentwicklung und -sicherung der hochschulischen Bildungspraxis ausgewirkt. In Kanada wurde das Thema verbindlich in die Akkreditierungsstandards für die Ausbildung von sechs zentralen Gesundheitsprofessionen aufgenommen. Eine von Health Canada geförderte Initiative zur Accreditation of Interprofessional Health Education (AIPHE 2014) hat eine Handreichung dafür erarbeitet, wie die Kriterien interprofessionellen Lernens und Lehrens systematisch in den Akkreditierungsprozess integriert werden können. Dies wird auch in anderen Ländern als notwendig angesehen, um das Thema weiter voranzubringen und verbindlich in den hochschulischen Ausbildungen zu verankern (Ewers et al. 2019). In einer vor wenigen Jahren durchgeführten Untersuchung wurden für die USA 23 entsprechende Akkreditierungsdokumente für insgesamt 10 Gesundheitsprofessionen identifiziert, zudem noch 205 auf das interprofessionelle Lernen und Lehren ausgerichtete Erklärungen, die meisten von ihnen interessanterweise in der Pflege und Pharmazie, mit Abstand gefolgt von der Medizin und anderen Gesundheitsprofessionen (Zorek/Raehl 2013).

Die Verantwortung für die Umsetzung der verpflichtenden interprofessionellen Ausbildung wird meist den DekanInnen der Professional Schools oder Fachbereiche zugeschrieben, zumal sie für die Verteilung von zeitlichen, personellen und sachlichen Ressourcen verantwortlich sind und somit die notwendigen Freiräume für das professions- und auch organisationsübergreifende Lernen und Lehren schaffen können. Dazu müssen auch die DekanInnen der verschiedenen Studien- und Ausbildungsprogramme nachweislich eng kooperieren und sich hinsichtlich der Umsetzungsbedingungen untereinander abstimmen – eine Maßnahme, von der eine nachhaltigere und schnellere Integration des Themas erwartet wird, als wenn dies den einzelnen Programmverantwortlichen oder Curriculum-Komitees überlassen bliebe (Zorek/Raehl 2013). Die Integration interprofessionellen Lernens und Lehrens in die Akkreditierungsprozesse wurde so zu einem wirkungsvollen Instrument, um die Auseinandersetzung mit dem Thema in der Qualifizierung der Gesundheitsprofessionen zu fördern und Interprofessionalität als diskretes Konzept und kulturelle Norm in den Professional Schools zu verankern (Ewers et al. 2019).  

Die Situation in Deutschland

In Deutschland stellt sich die Situation anders dar. Die Idee von Professional Schools für die Gesundheitsprofessionen ist dem deutschen Hochschulsystem fremd (vgl. auch WR 2010), dennoch finden sich auch hierzulande Versäulungs- und Abgrenzungstendenzen. Sie sind vielleicht noch deutlich ausgeprägter als andernorts, da in Deutschland die einen Gesundheitsprofessionen an Universitäten an eigenständigen Fakultäten (namentlich ÄrztInnen, ZahnärztInnen, ApothekerInnen, PsychologInnen), die anderen – Pflegende, Hebammen, Therapeuten – aber noch überwiegend traditionell in an Krankenhäusern angesiedelten Sekundarschulen besonderer Art ausgebildet werden. Erst in den letzten beiden Dekaden haben sich die Bemühungen um die Etablierung hochschulischer Bildungsangebote für diese letztgenannten Gesundheitsprofessionen intensiviert – aber noch überwiegend sind sie auf Fachhochschulen konzentriert (WR 2012). Das Zusammentreffen der verschiedenen Gesundheitsprofessionen und das „miteinander, voneinander und übereinander lernen“ in einem geteilten Lernumfeld – sei es ein Seminarraum, ein Skills-Lab oder ein klinisches Setting – ist dadurch schon aus strukturellen Gründen erheblich erschwert. Hinzu kommen noch Unterschiede in der Kultur, dem Niveau und den Zielsetzungen der Ausbildung der verschiedenen Gesundheitsprofessionen (Ewers et al. 2019).

Ausblick

Inzwischen wächst aber auch hierzulande das Problembewusstsein und es wird intensiver über die Voraussetzungen, Prozesse und Ergebnisse des interprofessionellen Lernens, Lehrens und Arbeitens diskutiert – so auch unlängst bei einem vom Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Leslie Dan Faculty of Pharmacy, University of Toronto veranstalteten internationalen Symposium. Dabei wurde deutlich, dass in den letzten Jahren auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz Initiativen in der Bildungsarbeit und Versorgungspraxis angestoßen wurden und selbst die Forschung zu diesem Thema langsam Fahrt aufnimmt. Noch aber ist der Abstand zu Ländern mit Erfahrungsvorsprung groß und es fehlt an tragfähigen strukturellen Maßnahmen, die das interprofessionelle Lehren und Lernen wirksam und nachhaltig in die (hochschulische) Ausbildung aller Gesundheitsprofessionen integrieren (Ewers et al. 2019). Zwar gibt es erste Ansätze zur Anpassung von Ordnungsmitteln – etwa am Beispiel der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung und dem Rahmenlehrplan für die neue generalistische Pflegeausbildung oder den Initiativen rund um den Masterplan Medizin 2020. Als verpflichtendes Qualitäts- und Prüfkriterium in Akkreditierungsverfahren gilt das Thema Interprofessionalität hierzulande aber (noch) nicht und auch an einer entsprechenden (hochschul-)politischen Flankierung und Unterstützung fehlt es weitgehend. Dabei wären das womöglich Ansatzpunkte, um die versäulten Strukturen der primären Qualifizierung der Gesundheitsprofessionen in Bewegung zu bringen, politische Legitimität zu erzeugen, Ressourcen zur Förderung des interprofessionellen Lernens, Lehrens und Arbeitens freizusetzen (Reeves et al. 2012) und Anschluss an die globale Bewegung für mehr Interprofessionalität zu finden (Barr 2015).

Kurzbiographien

Doreen Herinek (M.Sc.)

Doreen Herinek (M.Sc.)

Physiotherapeutin, Bachelor of Science Gesundheits­wissenschaften, Master of Science Health Professions Education, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gesundheits- undPflegewissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin mit Schwerpunkt Interprofessionelles Lehren und Lernen.

 

 

Prof. Dr. Michael Ewers MPH

Prof. Dr. Michael Ewers MPH

ist Direktor des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité - Universitätsmedizin Berlin und Universitätsprofessor für Gesundheits­wissenschaften und ihre Didaktik. Arbeitsschwerpunkte: Bewältigung schwerer chronischer Krankheit, ambulante Schwerstkrankenversorgung, Strategien der Fall- und Versorgungssteuerung, edukative Aufgaben der Gesundheitsprofessionen sowie deren Qualifizierung und Professionalisierung (Health Professions Education)